Die zweimalige Flucht der Familie Demeter
Zeitzeugen: Demeter György (Georg), Vater, geb. 1923 in Mosonszentjános und Dr. Demeter Georg (György), Sohn, geb. 1950 in Györ, beide nachmalig in Neusiedl am See, Burgenland
Datum der Flucht: 26. Oktober und 21./22. Dezember 1956
Die Wurzeln der Familie Demeter reichen väterlicherseits nach Neusiedl am See zurück. György Demeters Vater war vor dem Ersten Weltkrieg als Amtmann in Mönchhof tätig, später in Mosonszentjános, also knapp an der 1921 neu gezogenen ungarisch-österreichischen Grenze, wo György 1923 zur Welt kam. Seine Mutter stammte aus Mosonmagyarovár.
In seiner Kindheit gab es immer wieder längere Aufenthalte bei Verwandten in Neusiedl am See, das deshalb immer schon als „zweite Heimat“ betrachtet wurde. Nach der Volksschule besuchte György eine höhere Schule in Győr.
Der frühe Tod seiner Eltern führte György Demeter dann in ein staatliches Internat in Eger, das eigens für verwaiste Kinder von Gemeindebediensteten geführt wurde. Spätestens dort, in Eger, büßte er auch seine kargen, in der Kinderzeit erworbenen Deutschkenntnisse wieder ein. Nach der Matura absolvierte er die Militärakademie in Nyiregyháza, was ihm in der Ära Rákosi eher zum Nachteil gereichte.
Es erfolgte die für seine Generation signifikante Karriere, welche sich in zwei knappen Worten zusammenfassen lässt: Kriegsdienst und Gefangenschaft.
1946 kehrte er nach Győr zurück, wo er rasch Beschäftigung als Versicherungsangestellter und später als Buchhalter einer großen Firma fand. 1949 heiratete er seine Frau Márta, Tochter eines Schuhmachers in Győr.
Alles andere als leicht gestaltete sich die Wohnungssuche damals in der Rákosi-Ära. Offiziell war nämlich der Erwerb von Immobilien nicht gestattet. Nun, was damals schwer zu bewältigender Alltag war, liest sich heute wie eine amüsante Anekdote: György Demeter fand einen verkaufswilligen Wohnungseigentümer. In dessen Wohnzimmer hing ein wertvoller Jugendstil-Luster. Diesen kaufte das Ehepaar Demeter nun um gutes Geld – und zog dann in die dazugehörige Wohnung ein.
1950 war der Sohn Georg (György jun.) zur Welt gekommen, 1955 folgte das Töchterchen Veronika. Die Demeters hatten ihr Auskommen und litten keine Not, aber es war einfach kein angenehmes Leben unter diesem totalitären Regime nach stalinistischem Muster. Die Angst regierte den Alltag, Angst vor politischer Repression und Angst vor einer ökonomisch immer unsicherer erscheinenden Zukunft. Und als die Revolution die Grenzen in den Westen öffnete, gab es daher gar kein langes Überlegen: das Wichtigste gepackt und fort. Diese erste Flucht der Familie Demeter, am 26. Oktober 1956, verlief vollkommen undramatisch. Ein Rotkreuz-Transport brachte die vierköpfige Familie mitten im ständig anschwellenden Flüchtlingsstrom von Győr über den offenen Grenzübergang Hegyeshalom-Nickelsdorf direkt nach Neusiedl am See. Dort erwartete sie die Tante (eine Schwester des Vaters von György sen.) schon und man bezog im Hause der alleinstehenden Dame, einer pensionierten Lehrerin, Quartier.
In den nächsten Stunden und Tagen war das Radio der wichtigste Gegenstand im Leben der Demeters: Was kamen da aus Ungarn für Nachrichten. Aber das waren ja zu diesem Zeitpunkt sehr positive: Siegreich die Revolution, Reformen gewährleistet, das Leben in Ungarn wird freier und leichter und schöner werden.
Also, man fühlte sich ja wohl und gar nicht fremd im Haus der Tante in Neusiedl am See. Aber die Heimat war doch in Ungarn. Wo der kleine György eben erst mit der untersten Klasse der Grundschule begonnen hatte und kein Wort Deutsch konnte. Und ein Neuanfang ist immer schwierig und wo jetzt in Ungarn sowieso alles besser wird …
Also ging es bereits am 1. November wieder zurück nach Győr, in die eigene Wohnung (mit dem schönen Luster), wo man zwei Wochen später die Niederschlagung der Revolution und das Scheitern aller Hoffnung erlebte. Rákosi war zwar weg, aber die Russen waren da. Und täglich mehrten sich die Verhaftungen.
Sechs Wochen später stapft der kleine György durch die fette Ackererde zwischen Bezenye und Deutsch-Jahrndorf, nicht weit südlich des Dreiländerecks Ungarn, Österreich und – damals – Tschechoslowakei.
Es ist kalt, aber der Boden ist nicht gefroren und so klumpt sich immer mehr der fetten Erde an die Schuhe des Sechsjährigen. Seine Füße werden immer schwerer. Er geht an der Hand von Mutter und Vater, die kleine Schwester hat der Vater in einem Tragetuch auf seinem Rücken. Der kleine György weiß, dass sie flüchten und dass es gefährlich ist. Es ist still und stockdunkel, aber nicht die ganze Zeit. Denn manchmal explodiert Leuchtmunition in der Ferne. Das steigert seine Angst. Der Vater merkt es, und rät ihm, laut zu beten. Das „Vater unser“ – natürlich auf Ungarisch. Es sind noch zwei fremde Männer mit ihnen, die mit riesigen Packen, die aber gar nicht gar so schwer zu sein scheinen, beladen sind.
Es ist Nacht – die längste Nacht des Jahres. Denn es ist die Nacht des 21. Dezembers, Winterbeginn – und Stalins Geburtstag.
György Demeter sen. hat den Zeitpunkt mit Bedacht gewählt. Stalin ist zwar schon seit drei Jahren tot, aber Geburtstag gefeiert wird allemal noch, zumindest von den Soldaten der Volksarmee. Da kann man also davon ausgehen, dass die Kontrolle der grünen Grenze lascher ausfällt, in einer Nacht wie dieser. Denn die Grenze nach Österreich ist längst wieder zu und wird strenger überwacht als je zuvor. Aber heute wahrscheinlich nicht, von wegen Stalingeburtstag. Deshalb gelten die Leuchtraketen wahrscheinlich auch gar nicht dem Aufspüren von Flüchtlingen, sondern der Abfeierung des toten Diktators. Aber so genau weiß man das nicht. Die kleine Veronika auf Vaters Rücken schreit und ist unmöglich zu beruhigen. Das macht alle noch ängstlicher und nervöser. Dem Vater Demeter hat sein Schwiegervater, der Schuster in Győr, extra feste Schuhe für die Flucht gefertigt. Die sind wirklich sehr fest und außerdem nicht eingegangen. Jetzt verursacht ihm bereits jeder Schritt heftige Schmerzen. Auch die Mutter und der kleine György fühlen sich bereits am Ende ihrer Kräfte.
Da zeigen die beiden fremden Männer auf ein paar schwache Lichter, die scheinen aber nicht mehr sehr weit weg zu sein. Es sind die Lichter vom Karlhof bei Deutsch-Jahrndorf. Dort soll die Familie Demeter hingehen.
Die zwei Männer aber schlagen einen anderen Weg ein, mitsamt ihren großen Packen. Das sind nämlich keine Flüchtlinge, die zwei, sondern Schmuggler und ihre großen Packen sind voll mit feinen ungarischen Daunen, bestimmt für einen Wiener Bettwarenfabrikanten. Die beiden bekümmern sich nämlich wenig um Rákosi, Nagy oder Kádár, sie wissen aber den besten Weg über die Grenze, mit ihren Gänsefedern.
Zu dieser zweiten, weit dramatischeren und gefahrvolleren Flucht der Familie Demeter war es aber so gekommen: György Demeter war zwar kein Agitator der Revolution oder „Freiheitsheld“. Er war aber Betriebsrat in seiner Firma gewesen. Nachdem nun der Volksaufstand zerschlagen und das Regime Kádár konsolidiert war, rollte eine Verhaftungswelle über Ungarn, von der auch die ehemaligen Betriebsräte betroffen waren, meist ohne näheres Ansehen der Personen und der Rolle, die sie während der Revolution gespielt hatten. Da war es vor allem die junge Frau und Familienmutter Márta, die zu einer neuerlichen Flucht drängte. Sie hatte Angst um ihren Mann und diese Angst war berechtigt. Niemand wusste wirklich zu sagen, was mit den Verhafteten geschah. Kamen sie bald wieder frei, verschwanden sie einfach in einem der „Puszta-Lager“ im östlichen Ungarn oder stand ihnen ein Gerichtsprozess mit angedrohten Gefängnisstrafen bevor? Gerüchte von sofortigen Exekutionen oder einem „Erschießen auf der Flucht“ waren in Umlauf und das Menetekel „Sibirien“ geisterte durch die verschreckten Gehirne. (Im Nachhinein erwies sich, dass alle genannten Schicksalsvarianten vorgekommen waren.)
Jedenfalls war man seines Daseins nicht mehr sicher und so reifte der Entschluss zur zweiten Flucht. Ein Bekannter stellte den Kontakt zu den Daunenschmugglern in Bezenye her, die sich bereit erklärten, die Familie auf einem ihrer Grenzgänge nach Österreich zu schleusen. Aus dem bereits genannten Grund wurde die Nacht des 21. Dezembers vereinbart. Ob die Schmuggler für ihre Schlepperdienste Geld verlangt hätten? Das weiß Herr Demeter nicht zu sagen, denn er habe ihnen vorsorglich gleich bei der ersten Kontaktaufnahme ein Bündel größerer Scheine in die Hand gedrückt. Und so kam es zu dem geschilderten Marsch über die winterlichen Brachfelder von Ungarn nach Österreich. Als die Demeters endlich den Karlhof erreichten, bemerkten sie, dass sie nicht die Einzigen gewesen waren, die diese Nacht zur Flucht genutzt hatten. Rund ein Dutzend anderer Flüchtlinge nutzte bereits den „Komfort“ des am Karlhof bereitgestellten Heulagers. Für diese Nacht aber waren die Demeters die letzten Ankömmlinge.
Am Morgen wurden sie auf einem Traktoranhänger zur Registratur nach Deutsch-Jahrndorf gebracht, die in der dortigen Volksschule eingerichtet war.
Ein wenig wunderten sich die Eltern Demeter über die Freundlichkeit der dort agierenden Personen, denen nach dem Kontakt mit einer so großen Anzahl an Flüchtlingen ihr Tun anscheinend noch immer nicht zur lästigen Routine verkommen war. Dann nahm die Familie einfach den Linienbus nach Neusiedl am See. In Gattendorf musste man umsteigen. Ein dort ebenfalls auf den Autobus wartender Einheimischer beschenkte sie mit einem Packerl „Manner“-Schnitten und man hat weder vorher noch nachher je bessere gegessen.
Die Busfahrt erlebte der kleine György jedoch voller Furcht: Er hielt nämlich die auf den Feldern aufgestellten Windschutzzäune für Grenzabsperrungen, glaubte, man bewege sich ständig entlang der Staatsgrenze und sei daher noch in Gefahr. In Neusiedl sei es dann sehr finster gewesen, allein eine Tankstelle erstrahlte in hellem Licht.
Natürlich fand man wieder Aufnahme im Haus der Tante und der Vater bekam auch bald Arbeit als Buchhalter in einer Steuerberatungskanzlei, er war ja in Neusiedl am See kein gänzlich Fremder. Heimweh? Hatte hin und wieder nur Mutter Márta, die zuweilen auch unter Albträumen litt (Márta Demeter verstarb im Jahr 2000).
Auch das Söhnchen war in der Volksschule keinerlei Anfeindungen ausgesetzt, obwohl Georg, wie der kleine György sofort genannt wurde, zunächst im Unterricht kein Wort verstand. Aber das änderte sich sehr bald. Der Sechsjährige empfand übrigens die Übersiedelung vom doch etwas großstädtischeren Győr in das kleine Agrarstädtchen, das Neusiedl damals noch war, doch insgesamt ein wenig als Verlust an Lebensqualität. Vom „Goldenen Westen“ seiner kindlichen Vorstellung hätte man eigentlich wenig merken können.
Doch wohnt und arbeitet Dr. Georg Demeter samt Familie bis heute in Neusiedl am See. Er betreibt eine selbstständige Steuerberatungskanzlei und viele Neusiedler haben gar keine Ahnung, dass er eigentlich ein gebürtiger Ungar ist.
Das kleine Töchterchen, das damals vom Papa mühevoll über die Grenze getragen wurde, ist heute als Frau Dr. Veronika Demeter-Köhle eine Hofrätin der Finanzprokuratur in Wien.