Regierungseinfluss, Sideletter, Freundeskreise: Burgenland will mit Verfassungsbeschwerde Unabhängigkeit des ORF sichern

LH Doskozil: „Der ORF muss unabhängig von politischer Einflussnahme seinen öffentlich-rechtlichen Auftrag erfüllen können.“

Der Stiftungsrat des ORF ist das wichtigste Aufsichts- und Kontrollorgan des größten österreichischen Medienunternehmens. Die Mehrheit seiner Mitglieder wird von der Regierung bestellt. Durch die im März 2021 bekannt gewordenen „Sideletter“ mit denen die Koalitionspartner der Regierungen Kurz I und Kurz II Besetzungen im Stiftungsrat und im ORF vereinbart haben wurde der Öffentlichkeit besonders deutlich vor Augen geführt, wie stark der Einfluss der Bundesregierung auf den öffentlich-rechtlichen Rundfunk ist. Das ORF-Gesetz, das die Regeln für die Besetzung des Stiftungsrates festlegt, steht deswegen seit Jahren in der Kritik, zuletzt auch von prominenten ORF-Journalisten selbst. Die Burgenländische Landesregierung hat daher heute einen entsprechenden Gesetzesprüfungsantrag beim Verfassungsgerichtshof (VfGH) eingebracht. „Wir haben in den letzten Jahren gesehen, wie wichtig ein unabhängiger öffentlich-rechtlicher Rundfunk für unsere Gesellschaft und die Demokratie ist“, begründet Landeshauptmann Hans Peter Doskozil diesen Schritt: „Der ORF muss seinen Kernauftrag objektiv, unparteiisch und unabhängig erbringen können.  Wenn das wichtigste Organ des ORF, der Stiftungsrat, nach dem geltenden Gesetz mehrheitlich von der Regierung besetzt wird, ist die Unabhängigkeit des ORF nicht gewährleistet. Die unabhängigen Medien sollten die Regierung kontrollieren – nicht die Regierung die Medien.“ 

In dem im Jänner 2022 bekannt gewordenen „Sideletter“ zum Koalitionsabkommen aus dem Jahr 2017 zwischen den Regierungsparteien ÖVP und FPÖ wurde auf eine weitere Vereinbarung zwischen dem damaligen Stiftungsrat-Vorsitzenden des ORF und dem Leiter des „ÖVP-Freundeskreises“ im Stiftungsrat verwiesen. In dieser wurden Stellenbesetzungen im ORF vereinbart und Absprachen über ORF-Leitungsfunktionen getroffen. Auch zwischen den gegenwärtigen Regierungsparteien ÖVP und Grüne wurde in einem „Sideletter“ zum Koalitionsvertrag eine Vereinbarung hinsichtlich des ORF-Stiftungsrates und seines damals noch zu wählenden Vorsitzenden getroffen.

Eine derartige politische Aufteilung des ORF ist nicht neu: nachdem 1963 eine Zusatzvereinbarung zum Koalitionsabkommen der Regierung publik geworden war, in dem eine Aufteilung der Kontrolle über den ORF paktiert wurde, wurde 1964 das Rundfunkvolksbegehren abgehalten. In diesem ersten Volksbegehren der Zweiten Republik forderten die Unterzeichneten die „Entpolitisierung des Rundfunks, Verhinderung des Proporzes, mehr Unabhängigkeit“.

„Natürlich hat es auch in der Vergangenheit immer wieder Versuche der politischen Einflussnahme gegeben - niemand ist so blauäugig, das zu bestreiten. Aber die vor kurzem öffentlich gewordenen Chats zeigen, dass zuletzt Grenzüberschreitungen üblich wurden, die demokratiepolitisch und verfassungsrechtlich schwer bedenklich, aber durch das ORF-Gesetz gedeckt sind. Die Unabhängigkeit des ORF darf kein Lippenbekenntnis sein. Deshalb ist es mir den Versuch wert, den Verfassungsgerichtshof als obersten Hüter der Verfassung die geltende Gesetzeslage überprüfen zu lassen“, so Landeshauptmann Doskozil. 

Der öffentlich-rechtliche Rundfunk in Österreich wird durch zwei Verfassungsgesetze reguliert: Das BVG-Rundfunk verlangt, dass die Unabhängigkeit seiner Mitarbeiter und seiner Organe garantiert werden. Die (im Verfassungsrang stehende) Europäische Menschenrechtskonvention soll sicherstellen, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk nicht von einer bestimmten Gruppe, insbesondere von der Regierung, dominiert wird. 

Nach Ansicht der Burgenländischen Landesregierung wird das ORF-Gesetz derzeit diesen Anforderungen nicht gerecht: die Regierung hat aus mehreren Gründen zu viel Einfluss auf die Bestellung der Aufsichts- und Kontrollorgane des ORF die eigentlich völlig unabhängig sein sollten. 
·    Erstens wird der überwiegende Teil sowohl der Mitglieder des Stiftungsrates als auch des Publikumsrates von der Regierung bzw. vom Bundeskanzler bestellt. 
·    Zweitens gibt es keine Regelungen, die die Unabhängigkeit und die Qualifikation der Mitglieder dieser bedeutenden Gremien sicherstellen. 
·    Drittens gibt es für diese Bestellungen weder ein öffentliches Auswahl- oder Besetzungsverfahren noch gibt es eine Möglichkeit, diese Besetzungen einer unabhängigen gerichtlichen oder behördlichen Kontrolle zu unterziehen. 

All das führt dazu, dass die Bestellung der genannten Organe des ORF von Parteipolitik dominiert wird, die verfassungsrechtlich gebotene Unabhängigkeit und „Regierungsferne“ ist nicht gegeben. Aus diesem Grund beantragt die Burgenländische Landesregierung eine verfassungsmäßige Überprüfung des ORF-Gesetzes sowie eine Aufhebung der entsprechenden gesetzlichen Bestimmungen durch den VfGH. Das Burgenland habe im Vorgriff auf diese Verfassungsbeschwerde für die neue Periode mit dem Künstler Christian Kolonovits einen Vertreter in den Stiftungsrat entsandt, der völlig unabhängig agieren könne und sich auch keinem Freundeskreis angeschlossen habe, so LH Doskozil abschließend. 

Hier finden Sie den Antrag der Burgenländischen Landesregierung auf Normenkontrolle gemäß Art. 140 Abs. 1 Z 2 B-VG bezüglich der § 20 Abs. 1, Abs. 4, Abs. 5 und Abs. 7, § 28 Abs. 3, Abs. 4, Abs. 5 und Abs. 6, § 29 Abs. 4 und Abs. 6 und § 30 Abs. 1 Z 2 des Bundesgesetzes über den Österreichischen Rundfunk (ORF-Gesetz, ORF-G), BGBl. Nr. 379/1984, in der Fassung BGBl. I Nr. 247/2021 zum Download

Eisenstadt, 28. Juni 2022

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