Die Ansiedelung jüdischer Familien im Burgenland
Die ersten Juden und Jüdinnen auf heute burgenländischem Gebiet sind für das 13. Jahrhundert nachweisbar. Nach ihrer Vertreibung aus der Steiermark und Kärnten1496 unter Kaiser Maximilian I. und aus Ödenburg und anderen ungarischen Städten nach der Schlacht von Mohács1526, fanden viele Vertriebene Zuflucht auf westungarischem, heute burgenländischem Gebiet.
Im zweiten Drittel des 17. Jahrhunderts ist, nach der Ausweisung der jüdischen Bevölkerung aus Wien, Niederösterreich und Oberösterreich unter Kaiser Leopold I., erneut eine jüdische Zuwanderung zu verzeichnen. Dies ist auch der Beginn einer kontinuierlichen Besiedlung auf dem Gebiet des heutigen Burgenlandes. Zu dieser Zeit entstanden unter dem Schutz der ungarischen Magnatenfamilie Esterházy die so genannten „Sieben-Gemeinden“ (Schewa Kehilloth) in denen sich jüdische Familien ansiedeln durften.
Im Süden des Landes übte die westungarische Magnatenfamilie Batthyány ihre Schutz- und Grundherrschaft aus. Zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert entstanden in dieser Region fünf große jüdische Gemeinden, drei davon im heutigen Burgenland.
In diesen Gemeinden (Deutschkreutz, Eisenstadt, Frauenkirchen, Kittsee, Kobersdorf, Lackenbach und Mattersburg im mittleren und nördlichen Burgenland, Rechnitz, Stadtschlaining und Güssing im südlichen Burgenland) lebte der Großteil der Jüdinnen und Juden. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts siedelten jüdische Familien sich auch in zahlreichen anderen Gemeinden an.
Viele jüdische BürgerInnen wanderten jedoch bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts in die großen wirtschaftlichen Zentren, nach Budapest, Wien und Graz ab. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts lebten auf dem Gebiet des heutigen Burgenlandes noch über 8.000 Juden und Jüdinnen, der jüdische Bevölkerungsanteil betrug in manchen Gemeinden, wie in etwa in Lackenbach, über 50%.
Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges wurde das Gebiet des heutigen Bundeslandes Burgenland an Österreich angegliedert. Die Volkszählung des Jahres 1934, die letzte vor der Vertreibung der burgenländischen Juden und Jüdinnen in Österreich, zählte im Burgenland 3.632 Personen jüdischen Glaubens, insgesamt zählte man für Österreich im Jahr 1934 191.481 Juden und Jüdinnen.
Diese Volkszählung weist folgende Zahlen für die hier ausgewählten Gemeinden nach: Frauenkirchen 386 (11,7% der Gesamtbevölkerung des Ortes), Kittsee 62 (2,3%), Neusiedl am See 37 (1%), Parndorf 36 (1,3%), Unterberg-Eisenstadt 225 (61,8%), Freistadt Eisenstadt 204 (4,1%), Eisenstadt-Oberberg 33 (2,6%), Mattersburg 511 (12,0%), Bad Sauerbrunn 39 (2,9 %), Neudörfl 33 (1,2%), Deutschkreutz 433 (12,1%), Lackenbach 346 (22%), Kobersdorf 172 (13%), Kaisersdorf 45 (4,3%), Rechnitz 170 (4,5%), Oberwart 138 (3%), Großpetersdorf 47 (2,4%), Pinkafeld 34 (1%), Stadtschlaining 19 (2,2%), Güssing 74 (3,2%).1
März 1938 und die Folgen
Bereits am Morgen des 11. März 1938, noch vor der Abschiedsrede Kurt Schuschniggs im Radio, fanden organisierte Aufmärsche der Ortsgruppen der NSDAP im Burgenland statt. Trotz der Illegalität hatte sich die NSDAP gut organisieren können. Die Machtübernahme der Nationalsozialisten erfolgte im Burgenland, so wie in den anderen Bundesländern auch, noch am Tag vor dem Einmarsch der Deutschen Wehrmacht.2
Im Burgenland setzten Verhaftungen, meist der Männer der jüdischen Familien, bereits in der Nacht vom 11. auf den 12. März ein. Die ersten Ausschreitungen gegen die jüdische Bevölkerung und die Plünderung ihrer Wohnungen und Geschäfte wurden durch lokale Ortsgruppen, der SA und der sich schnell organisierenden Gestapo durchgeführt. Dabei mussten viele Juden und Jüdinnen erkennen, dass Bekannte der Familie, in einigen Fällen auch Angestellte der eigenen Firma, sich an diesem Raubzug beteiligten. Es darf aber auch nicht unerwähnt bleiben, dass einzelne Familien Hinweise über bevorstehende Verhaftungen oder Hilfestellungen zur Flucht von nichtjüdischen Personen bekamen, vereinzelt sogar von deklarierten Mitgliedern von NS-Organisationen, die mit der Familie bekannt waren.3
Eine zentrale Rolle spielte 1938 die Gestapoleitstelle in Eisenstadt. Kriminalkommissar Otto Kurt Koch war bis Herbst 1938 einer der Hauptverantwortlichen für die Misshandlungen, Vertreibungen, Beschlagnahmungen und Beraubung der Juden und Jüdinnen im Burgenland. Nach dem Herbst 1938 und bis 1941 war er bei der Gestapo in Wien tätig, wo ihm burgenländische Juden und Jüdinnen bei Verhören abermals begegneten.
In seine Verantwortung fiel auch die Abschiebungen jüdischer Familien über die Grenzen, die zwischen Ende März und Ende April 1938 stattfanden. Ein Teil der Güssinger und Rechnitzer Juden und Jüdinnen wurde so nach Jugoslawien abgeschoben, jene aus Gols und Parndorf nach Ungarn und jüdische Familien aus Kittsee und Pama wurden auf einem Wellenbrecher in der Donau, im Niemandsland zur Tschechoslowakei ausgesetzt.4 Diese Abschiebung ging durch die Weltpresse, die Familien wurden von jüdischen Hilfsorganisationen in Preßburg betreut und mussten fast vier Monate auf einem Schleppkahn auf der Donau verbringen, bis für sie Aufnahmeländer gefunden werden konnten.5 Die Abschiebungen und Vertreibungen der jüdischen Bevölkerung im Burgenland, waren die ersten auf dem Gebiet des Deutschen Reiches.
Juden, es waren zumeist die Väter der Familien, wurden von der Gestapo unter Androhung der Einlieferung in ein Konzentrationslager und durch Misshandlungen und Folter so genannte „Verzichtserklärungen“ abverlangt. Darin mussten die Verhörten unterschreiben, auf ihr gesamtes Vermögen zu Gunsten des Deutschen Reiches zu verzichten und das Land innerhalb einer gewissen Zeit, meist nur wenige Tage, zu verlassen.
Vertreibung und Deportation
Die auf diese Weise von ihrem Zuhause verwiesenen Familien hatten keine andere Wahl als ihre Heimat zu verlassen. Ein Großteil von ihnen ging zunächst nach Wien, wo die meisten Verwandte oder Bekannte hatten, bei denen sie zunächst Zuflucht fanden. Manche Familien gingen auch nach Graz, Wiener Neustadt oder Baden, blieben dort aber nicht lange, da auch die Juden und Jüdinnen aus diesen Städten bald vertrieben wurden. Die Flucht ins benachbarte Ausland war für die Vertriebenen auf legale Weise nicht mehr möglich, da diese Staaten knapp nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten ihre Grenzen für Flüchtlinge geschlossen hatten und die Visumspflicht einführten. Für jene, die 1921 nach der Angliederung des Burgenlandes an Österreich nicht für die österreichische Staatsbürgerschaft optiert hatten und im Besitz einer ungarischen, tschechoslowakischen oder anderen Staatsbürgerschaft waren, war dies hingegen noch möglich. Aber jene, die nach Ungarn flüchteten und dort bei Verwandten blieben, befanden sich in einer trügerischen Sicherheit, denn am 19. März 1944 besetzten deutsche Truppen Ungarn und am 15. Mai begannen die Deportationen der ungarischen Juden und Jüdinnen nach Auschwitz.
Für die nach Wien geflüchteten und vertriebenen burgenländischen Juden und Jüdinnen war das vorrangigste Ziel, so schnell wie möglich ein Land zu finden, das ihnen Zuflucht bot. Bis zu Kriegsbeginn am 1. September 1939 war für „Auswanderungswillige“ – so der beschönigende NS-Jargon – die Flucht zwar nicht leicht, aber immerhin noch möglich.
Die unter Aufsicht gestellte Israelische Kultusgemeinde (IKG) und das Palästina-Amt in Wien wurden zu wichtigen Stellen der „Auswanderung“. Das Palästina-Amt ging auf eine Gründung zionistischer Bewegungen im Jahr 1918 zurück und bekam durch die seit 1922 eingesetzte britische Mandatsregierung in Palästina die Ermächtigung zugestanden, nach festgelegten Quoten Einwanderungsgenehmigungen für Palästina, so genannte „Zertifikate“, auszustellen, und so die „Alija“, die jüdische Einwanderung, zu organisieren.6 Das Palästina-Amt wurde nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten verwüstet und geschlossen, am 3. Mai aber wieder eröffnet und – so wie die IKG – unter die Aufsicht der Nationalsozialisten gestellt. Im August 1938 wurde die „Zentralstelle für jüdische Auswanderung“ gegründet, ihr Leiter Adolf Eichmann blieb dort bis Sommer 1939 und baute dann in Prag eine „Zentralstelle“ nach dem Wiener Vorbild auf. Die „Zentralstelle für jüdische Auswanderung“ wurde zur zentralen Behörde in allen Belangen der „Auswanderung“, in der Beschaffung von Einreisemöglichkeiten und dazu nötiger Devisen, in der Zusammenarbeit mit Reisebüros und Schifffahrtgesellschaften und vor allem in der Überwachung jüdischer Auswanderungsorganisationen, unter anderem der IKG und des Palästina-Amts. Im Oktober 1939 wurden die ersten noch in Wien lebenden Juden und Jüdinnen nach Nisko in Polen, unter Vortäuschung eines Ansiedlungsprogramms für Freiwillige, deportiert. Ab Februar 1941 begannen die Deportationen in die Konzentrations- und Vernichtungslager aus Wien. Die Organisation übernahm die „Zentralstelle für jüdische Auswanderung“, die sich von einer zentralen Behörde für „Auswanderung“ zu einer Behörde für die Deportationen und die Vernichtung gewandelt hatte.7
Zu einer deutlichen Verschlechterung der Situation kam es nach den Novemberpogromen 1938 im Deutschen Reich, von den Nationalsozialisten zynisch „Kristallnacht“ genannt. Als Reaktion darauf und nach Verhandlungen jüdischer Organisationen mit der britischen Regierung wurden „Kindertransporte“ für Kinder und Jugendliche zwischen 5 und 17 Jahren nach England organisiert. Über 2.200 Kinder aus Österreich gelangten auf diesem Weg zwischen Anfang Dezember 1938 und Ende August 1939 nach Großbritannien.
Nach Beginn des Zweiten Weltkrieges waren die Fluchtmöglichkeiten sehr eingeschränkt, die europäischen Länder kamen als Zufluchtsländer kaum mehr in Frage. Nach Italien konnte man noch bis Mai 1940 mit einem Touristenvisum einreisen, bis auch diese Grenzen für jüdische Flüchtlinge geschlossen wurden. Einer der letzten Zufluchtsorte war Shanghai, wohin viele burgenländische Juden und Jüdinnen gleichsam im letzten Moment flüchten konnten. Bis zum Angriff deutscher Truppen auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 war es auch noch möglich über Sibirien in die Mandschurei und von dort nach Shanghai zu kommen. Im Oktober 1941 wurde die Auswanderung von Juden und Jüdinnen aus dem Deutschen Reich per Gesetz verboten. Die Flucht ins rettende Ausland war kaum mehr möglich. Für jene BurgenländerInnen jüdischer Herkunft, die zu dieser Zeit noch in Wien festsaßen, gab es so gut wie keine Ausreisemöglichkeit mehr.
Legende
1Die Ergebnisse der österreichischen Volkszählung vom 22. März 1934, Heft 1. Bearb. vom Bundesamt für Statistik. Wien 1935. Statistik des Bundesstaates Österreich, 11. Wien 1935.
2Schlag, Gerald: Der 12. März 1938 im Burgenland und seine Vorgeschichte. In: Burgenland 1938. (Burgenländische Forschungen, Heft 73). Eisenstadt 1989, S 96-111, vgl. 105ff.
3vgl. Lang, Alfred/Tobler, Barbara/Tschögl, Gert (Hg.): Vertrieben. Erinnerungen burgenländischer Juden und Jüdinnen. Wien 2004.
4Moser, Jonny: Die Juden. In: Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (Hg.): Widerstand und Verfolgung im Burgenland 1934-1945. Eine Dokumentation. Wien 1983, S 294-341, 295f; Rosenkranz, Herbert: Das Judentum Burgenlands am Vorabend der Schoah. In: Spitzer, Schlomo (Hg.): Beiträge zur Geschichte der Juden im Burgenland. Studientagungen der Universität Bar-Ilan (1993) und dem Friedenszentrum Stadtschlaining (1994). Wien 1995, S 143-160, vgl. 153ff.
5vgl. Moser 1983, 307f.
6Anderl, Gabriele/Jensen, Angelika: Zionistische Auswanderung nach Palästina vor 1938. In Horvath, Traude/Neyer, Gerda (Hg.): Auswanderung aus Österreich. Von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart. Wien 1996. S 187-209, vgl. 199ff.
7Anderl, Gabriele/Rupnow, Dirk: Die Zentralstelle für jüdische Auswanderung als Beraubungsinstitution. (Hg. Historikerkommission). Wien 2002.